Beratungslehrer in Bayern e.V.

Wir sind die Experten, die diese Zeit braucht – ein manifest

Es gibt Zeiten, in denen sich nichts bewegt, weil sich nichts bewegen muss. Es gibt aber auch Zeiten, in denen sich viel bewegen kann, weil die vorgebenen Strukturen nicht mehr zu dem Leben passen, das gerade geführt werden muss. In so einer Zeit leben wir gerade: Der Krieg gegen die Ukraine wird vieles verändern. Es fliehen Eltern, die eine andere Sprache haben und genau wissen, was sie für ihren Kinder wollen: Bildung und Erziehung! Corona führte dazu, dass die Bildungspolitik improvisieren oder sich sogar umstrukturieren muss; ein an sich sehr starre Struktur wird jetzt notgedrungen weich.

Schon jetzt werden viele Eltern unruhig, weil sie die Schulkarriere ihrer Kinder als gefährdet sehen. Das zeigt sich in meinem Umfeld darin, dass, wenn die Noten nicht mehr stimmen, die Bereitschaft sinkt, den Schüler die Jahrgangsstufe wiederholen zu lassen; viel schneller als vorher schickt man das Kind auf die Realschule. Schadensbegrenzung. Das Kind lernt nicht mehr so, wie es soll, folglich schickt man es in ein System, in dem die Anforderungen dem entsprechen, was es leisten kann und will. Die Frage, die niemand stellt, ist, warum das Kind nicht mehr lernt, obwohl es mit einem ordentlichen Schnitt von der Grundschule kam.

Ich behaupte, dass ein Schulsystem, das von den Erwartungen der Gesellschaft, der administrativen Umsetzbarkeit und von dem Angebot getragen wird, das jeder Schüler den bestmöglichen Einstieg in die Berufswelt bietet, nicht krisenfest ist. Keiner dieser Faktoren ist für den, auf den das System ausgerichtet ist, den Schüler, relevant und motivierend: Ihm ist es gleichgültig, was die Gesellschaft erwartet, was administrativ umsetzbar ist, und für die meisten ist auch der Einstieg ins Berufsleben in weiter Ferne. Wie soll er sich dann motivieren? Warum soll er eine fordernde Welt an sich heranlassen, wenn sie ihm nicht das bietet, was sie verspricht?  Gefährliche Fragen im Schulsystem, weil der Denker damit, seine Perspektive ändern muss: Vom „Was wollen wir, dass er lernt?“ zum „Was kann er überhaupt – nach den Erkenntnissen der Lern- und Entwicklungspsychologie – lernen?“ Oder aus der Lehrerperspektive: „Wie muss ich lehren, dass die administrativen Vorgaben erfüllt sind?“ zum „Wie muss ich lehren, dass jeder Schüler auch das gelernt hat, was er gelernt haben soll?“

Im Grunde brauchen wir eine neue Lernkultur, die vom Schüler her gedacht wird. Viele Privatschulen machen uns das vor, weil sie zum Erfolg verpflichete sind. Wir brauchen eine Administration, in der die Akteure um Lösungen ringen und sich nicht im Hauen und Stechen um Pfründe und knappe Ressourcen ergehen. Wir brauchen Lehrer, die mehr Zeit darauf verwenden, zu überlegen, wie sie die Mauern überwinden können, die die Schüler ihnen gegenüber aufgebaut haben. Wir brauchen eine Verwaltung, Lehrer und Eltern, die es den Schülern leichter machen, zu erfahren, dass die Schule ihr Freund ist, der ihnen mit Bildung einen Weg in die Welt der Erwachsenen weist. Wir brauchen an den Schulen großzügige Zeitfenster, damit so wiederholt werden kann, dass sich Wissen nachhaltig im Gedächtnis verankert. Nur so kann neues Wissen, Interesse und Neugier aufgebaut werden.

Und wir sollten uns ernsthaft Gedanken machen, warum wir so viele unglückliche Akteure in unserem System haben! Warum sind so viele Lehrer unglücklich, warum so viele Schüler? Weil sie nicht selbstwirksam sind! Die Lehrer können das nicht machen, was sie gern täten: lehren; die Schüler können das nicht machen, was sie gern täten: lernen. Da stimmt etwas nicht! Lasst uns laut darüber nachdenken!

Und was hat das jetzt mit uns als Beratungslehrkräfte zu tun? Wir sind an sich an den Schulen die Experten für Lernen und Lehre. Wir sind nahe an dem , was Schüler und Lehrer belastet. Nur wir haben uns wirklich so lange und intensiv wie keine andere Profession im schulischen Bereich akademisch geprüft mit dem Thema beschäftigt. Wenn jemand Lernen und Lehre an den Schulen neu denkt, dann wir. Wir haben das Schulsystem im Kopf, die Schule und ihre Schüler. Wir verfügen über die Systemkompetenz.

Und jetzt ist die Zeit dafür, weil man landauf, landab feststellen wird, dass die angedachten und angeordneten Fördersysteme nicht wirklich funktionieren, weil sie von den administrativen Möglichkeiten und nicht davon gedacht werden, wie Kinder lernen und lernen können.

Schiebt euch in den Vordergrund, wenn es darum geht, ein neues krisenadäquates Förderkonzept zu erstellen. Jetzt ist die Zeit auch einmal groß zu denken, weil euch niemand eure Expertise absprechen kann. Profiliert euch als Lernexperten und nehmt eure Schulleitungen sanft an die Hand auf ihrem Weg zu einer schülerorientierten Lehr- und Lernkultur. Dreht jetzt an der einen Stellschraube und schaut, was passiert! Vielleicht geht ja auch noch mehr! Jetzt haben wir die Chance dazu, weil für diesem Bereich Expertise gefragt ist. Die Tür ist einen Spalt offen. Lasst uns das nutzen! Vielleicht können wir sie ja auch weiter aufstoßen! Das wäre dringend nötig.

3 Comments

  • Irmgard Pollinger

    Lieber bib Vorstand, lieber Christian,
    dieser interessante und gute Artikel setzt viele Gedanken bei mir frei. Ich erinnere mich an Diskussionen, Lösungsversuche und auch gelungene Maßnahmen zum Thema Lernförderung. Die Förderung einer neuen Lernkultur ist und bleibt ein zentrales Anliegen und wird durch die gesellschaftlichen Veränderungen und die aktuellen Krisensituationen noch dringender.
    Ja, im Ringen um Lösungen müssen alle Betroffenen eingebunden werden und es müssen auch die notwendigen politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Ein großes Aufgabenfeld!

    Ich kann nur bestätigen: Die Beratungslehrer sind die Experten in diesem Prozess und sind auch bereit, Verantwortung zu übernehmen.

    Ich ermutige euch, den eingeschlagenen Weg der guten und nachhaltigen bib-Arbeit fortzusetzen.

  • Katja Honold

    Ich stimme dir in ganz vielem zu, Christian! Gerade die “Schadensbegrenzung” durch Schulwechsel, die ja auch von den meisten Kolleg:innen (zumnindest am Gymnasium) so schnell und leichthin gefordert wird, tut mir im Herzen weh.
    Aber: Ich wünschte, ich wäre die Expertin, als die du mich qua Amt bezeichnest! Ich kenne vermutlich viele Theorien, wirdersprüchliche und keine einzige unumstrittene – aber die praktische Hilfe, wenn Eltern und Schüler:innen mit Lernproblemen bei mir in der Beratung sitzen, ist so begrenzt und funktioniert oft nur kurzzeitig bei intensiver Betreuung.
    Seit ich Beratungslehrerin bin und gefragt werde, welche Fortbildungen ich brauchen könnte, schreibe ich: Praktisch umsetzbare, wirksame Hilfskonzepte bei Lernschwierigkeiten.
    Gibt es denn die tatsächlich oder können wir mit dem bayerischen Schulsystem immer nur hinterherrennen, flicken und Einzelfälle “retten”?

    • Christian Feja

      Liebe Katja,
      was viele von uns erwarten, sind schnell wirksame Maßnahmen. So wie bei einem Schnupfen. Aber viele, die zu uns kommen, haben den Schnupfen quasi schon verschleppt. Und helfen leider keine Hausmittel. Wenn wir das nach dem Diagnosegespräch, der Arzt würde von “Anamnese” sprechen, festellen, sollten wir den “Patienten” einem Screening unterziehen, damit wir genauer wissen, was ihm fehlt. Das haben wir gelernt; dazu können wir auch testen, wenn wir es für nötig halten (Beim Arzt wäre das das Blutbild). Und dann könnte man überlegen, welche Maßnahmen greifen.
      Viele unserer Schüler purzeln – zumindest bei mir am Gymnasium – in den unterschiedlichsten Fördermaßnahmen herum (individuelle Lernzeit, Sprachbegleitung, Schülernachhilfe) weil Kollegen sie dorthin schicken, in der Hoffnung, dass die Maßnahme irgendwie greift. Das tut sie meist nicht, weil viele Schüler nicht bereit sind, in ihre Rettung selbst etwas zu investieren, und niemand weiß, was dem Schüler wirklich fehlt. Daher wäre schon viel getan, wenn er, bevor er einer Maßnahme zugewiesen wird, ein Screening durchlaufen würde, das so konstruiert ist, dass möglichst viele Kollegen bedienen können. Mein Bild ist da die Notaufnahme in einem Krankenhaus: Vor der ersten Maßnahme wird erstmal das Blut abgenommen, Blutdruckgenessen, ein Röntgenbild erstellt. Dann kommt die Diagnose.

      Wenn wir so ein Screening hätten, müssten wir auch überlegen, welche “Therapien” wirksam werden. Das könnte bei uns bei der einer simplen Hausaufgabenbetreuung anfangen, über ein Coaching weitergehen und bei Konzentrationstraining oder Gruppen- bzw. Einzelnachhilfe enden. Die derzeitigen Förderkonzepte könnten das teilweise leisten, wenn wir sie an das Screeningkonzept anpassen. Wir müssten jedoch Einiges auch ergänzen, wie z. B. die Nachhilfe. Wie man das macht, ist aber wahrscheinlich auch ein rechtliches Problem. Möglicherweise geht das auch über die Brückenbauangebote.
      Die Wirksamkeit, die du forderst, würde dadurch entstehen,
      1. dass die Maßnahmen sehr passgenau sein könnten
      2. Schulleistungsproblme als das gesehen werden, was sie sind, meist als Folge jahrelanger Schlamperei oder Überforderung, die auch nicht in einer halben Stunde gelöst werden können.
      Damit die mich richtig verstehst: Ich will nicht, dass du das alles managst. Ich will dir nur aufzeigen, mit welchen Vorschlägen wir an die Schulleitungen herantreten können, wie man die Förderstruktur verändern kann. Auf den Weg muss sich die ganze Schule machen – und den sollten wier moderieren.
      Wenn wir uns darüber weiter unterhalte sollten, weißt du ja, wie du mich erreichst.

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